Von Annick Hillger
EinleitungDie englischsprachige Literatur Kanadas ist jung. Was im 18. Jahrhundert als koloniales Schrifttum begann, gilt heute als eigenständige Literatur von Weltrang. Schriftsteller wie Michael Ondaatje (geb. 1943) und Margaret Atwood (geb. 1939) gehören zu den bedeutendsten Vertretern der englischsprachigen Gegenwartsliteratur.
Auch im kanadischen Literaturbetrieb schaut man inzwischen selbstbewusst auf das eigene Schaffen. Das war nicht immer so: “Boy meets Girl in Winnipeg and Who cares?” (Junge trifft Mädchen in Winnipeg und wen kümmert's?) – dieser Titel eines Aufsatzes des Romanciers Hugh MacLennan (1907–1990) aus dem Jahr 1958 wurde geradezu sprichwörtlich. Er spiegelt nicht nur die vermeintliche Provinzialität der kanadischen Literatur wider, sondern auch den viel gescholtenen Minderwertigkeitskomplex der Kanadier, die sich immer wieder die Frage nach der eigenen Identität stellten. Die Suche nach dem Wesen der Nation spielte in der kanadischen Literatur und in der Literaturgeschichtsschreibung eine große Rolle und ist nur vor dem Hintergrund der kanadischen Geschichte zu begreifen. Anders als in den USA, dem “großen Bruder” im Süden, der sich früh von Großbritannien löste und eine eigenständige Literatur entwickelte, hielt man in Kanada die Verbindung zum Mutterland lange Zeit aufrecht. Während die USA einen Gründungsmythos in ...