Von Barbara Freitag und Hans-Christian Oeser
Mit dem Nordiren Seamus Heaney, der 1995 den Nobelpreis für Literatur erhielt, ist nach William Butler Yeats, George Bernard Shaw und Samuel Beckett dem vierten Schriftsteller Irlands diese höchste literarische Auszeichnung zuteil geworden. Ist der dadurch international anerkannte Beitrag dieser Autoren zur Weltliteratur schon aufgrund der geringen Größe ihres Herkunftslandes und dessen geringer Bevölkerungszahl (zusammen mit Nordirland wenig mehr als fünf Millionen Einwohner) eine erstaunliche Leistung, so noch mehr, wenn man bedenkt, daß Irland wegen seines jahrhundertelangen Status als Englands “erste Kolonie” (Friedrich Engels) und der tiefen Spaltung zwischen gälischen “Eingeborenen” und englisch-schottischen “Siedlern”, Katholiken und Protestanten, Nationalisten und Unionisten, Norden und Süden auf keine ungebrochene und einheitliche literarische Tradition zurückblicken kann.
Wie viele andere Länder auch, die zum britischen Weltreich gehörten, besitzt Irland nicht nur zwei Sprachen, sondern auch zwei Kulturen und Literaturen, nämlich eine englischsprachige, die ihre soziale Basis im anglo-irischen Bevölkerungsteil, der protestantischen Oberschicht (“Protestant Ascendancy”), hatte, sowie eine ursprüngliche irische, im gälischen Idiom verfaßte, die eine der ältesten nachantiken Literaturen Europas sein dürfte. Während die anglo-irische Literatur im eigentlichen Sinne erst im 19.Jahrhundert entstand, wurde letztere etwa zum gleichen Zeitpunkt und teilweise ...