Von Roland Spiller
Der gemeinsame historische HintergrundDie Geschichte der Gegenwartsliteraturen des “Cono Sur” (die Río de la Plata-Länder Argentinien, Uruguay und Paraguay sowie Chile) ist wie die ganz Lateinamerikas seit der Conquista eine Geschichte von Gewalt und Repression, von Widerstand und Anpassung, von Hoffnung und Enttäuschung. Den Unabhängigkeitskriegen folgten Bürgerkriege und ein Reigen von Diktaturen und Militärregierungen. Die Besonderheiten der südlichsten Region Lateinamerikas lassen sich nur vor diesem historischen Hintergrund verstehen. Mit der Unabhängigkeit begann in Lateinamerika der lange Kampf der Entkolonialisierung und Identitätssuche, an dem sich Schriftsteller aller vier Länder beteiligten. Lateinamerikas schwieriger Weg in die Modernität weist in Argentinien, Chile und Uruguay einige gemeinsame Stationen auf. Auf die Geschichte Paraguays und die seiner Literatur ist trotz vieler Verbindungen zum La Plata-Raum gesondert einzugehen, weil ihr hervorstechendes Merkmal über lange Zeiträume hinweg eine für den Subkontinent außergewöhnliche Isolation war, die eine Verzögerung in der sozio-kulturellen Entwicklung verursachte.
Das “Projekt der liberalen Nationalstaaten” bis zu deren Scheitern im 20.Jahrhundert soll in den folgenden vier Länderdarstellungen als historischer Leitfaden dienen. Mit dem “liberalen Projekt” verbunden waren jene dekolonialisierenden Bestrebungen im sozio-kulturellen Bereich, die darauf abzielten, die von der ...